14.11.08 16:05 Alter: 16 Monat(e)
Parlamentarische Diagnostik vor der Operation G20: Wie geht’s Patient K.?
Am Samstag treffen sich die Staats- und Regierungschefs der G20-Nationen zu einem Finanzgipfel in Washington. Ihre Mission: die Rettung des Kapitalismus. Seit dem Ausbruch der globalen Finanzkrise hängt die Marktwirtschaft am Tropf, Kommentatoren in aller Welt fordern eine strengere Überwachung der Finanzmärkte. Wir haben Europaparlamentarier im Wirtschaftsausschuss vor dem G20-Gipfel gefragt, wie schlecht es um den Patienten namens Kapitalismus steht und wie er zu retten ist.
Die ungezügelte Marktwirtschaft hat nach der weltweiten Finanzkrise harte Prügel einstecken müssen. Liegt der Kapitalismus auf dem Sterbebett oder auf dem OP-Tisch?
Pervenche Berès (Sozialdemokratische Fraktion, SPE – Frankreich), Vorsitzende des Wirtschaftsausschusses: „Wir erleben momentan das Ende des Kapitalismus à la Reagan und Thatcher. Der völlig von der Realwirtschaft entkoppelte, rein auf finanzielle Spekulation ausgelegte Kapitalismus hat sich als nicht dauerhaft lebensfähig erwiesen.“
John Purvis (Europäische Volkspartei – Europäische Demokraten, EVP-ED – Großbritannien), Vize-Vorsitzender: „Der Kapitalismus ist nicht tot, er muss wiederbelebt werden. Nur so können wir ein Wirtschaftswachstum auf einem Niveau erreichen, das notwendig ist um verheerende Konflikte in der Welt zu vermeiden.“
Zsolt Becsey (EVP-ED – Ungarn): „Der Kapitalismus liegt auf dem OP-Tisch. Es ist wichtig, dass wir nun diese übermäßige Profit-Gier eindämmen, die ganze Wirtschaftszweige zerstören kann.“
Sahra Wagenknecht (Vereinigte Europäische Linke – Deutschland): „Die Blasen von Reichtum und Schulden auf den internationalen Finanzmärkten sind das Resultat der wahnhaften Profitorientierung des ungezügelten Kapitalismus. Ein paar wenige profitieren von der freien Marktwirtschaft, doch sehr viele leiden darunter. Deshalb muss die Frage nach ökonomischen und politischen Alternativen zum Kapitalismus ganz offen auf die europäische Tagesordnung gesetzt werden.“
G20
- Die G20 bestehen aus 19 Industriestaaten und Schwellenländern, die zusammen rund 90% des Bruttosozialprodukts der Welt auf sich vereinen. Schwerpunkt des informellen Forums sind globale Wirtschafts- und Finanzfragen. Die G20 sind eine Antwort auf die Finanzkrise der späten 1990er Jahre, von der v.a. asiatische Schwellenländer betroffen waren. Die EU ist das zwanzigste Mitglied und wird jeweils durch die Ratspräsidentschaft repräsentiert.
Ieke van den Burg (SPE – Niederlande): „Der Kapitalismus braucht eine Notoperation. Das reicht aber nicht. Eine Komplettrenovierung ist nötig – oder um im Bilde zu bleiben, es gilt, den Ausbruch von Krankheiten durch Prävention und einen gesünderen Lebenswandel vermeiden, mit gesunder Ernährung, regelmäßigem Sport und so weiter.“
Heide Rühle (Grüne – Deutschland): „Die Finanzkrise ist das Produkt exzessiver Deregulierung. Ob wirklich Lektionen aus der Krise gezogen werden, wird man sehen. Am Schlimmsten wäre natürlich, wenn man bald wieder zur Tagesordnung übergeht und so tut, als wäre nichts gewesen.“
Maria Velichkova Baeva (Allianz der Liberalen und Demokraten für Europa, ALDE – Bulgarien): „Innere Spannungen, das stetige Auf und Ab gehören zur Entwicklung im System Kapitalismus dazu. Das lehrt uns, dass das System sich stets verändert und anpasst, Regeln und soziale Beziehungen dem Wandel unterworfen sind, um auch in schwierigen Fahrwassern zu überleben. Wenn in schwierigen Zeiten Systemfehler offensichtlich werden, dann muss man sie beheben.“
Welche grundlegenden Reformen des weltweiten Finanzsystems sind nötig? Und wird der G20-Gipfel in der Lage sein sie durchzusetzen?
Berès (SPE): „Oft sind kurzfristige Investitionen schlecht für die Realwirtschaft. Um das Finanzsystem zu verändern, müssen wir daher kurzfristige Anreize Risiken einzugehen radikal überdenken. Aber natürlich muss die EU auch vor der eigenen Türe kehren – zum Beispiel in Bezug auf Steuerparadiese.“
Purvis (EVP-ED): „Der Internationale Währungsfonds muss wiederbelebt werden – mit unbegrenzten Ressourcen und der vollen Unterstützung aller Mitgliedsstaaten. Dann könnte er für Ländern in finanziellen Schwierigkeiten – große und kleine – Kreditgeber in der Not sein.“
Becsey (EPP-ED): „Wir brauchen ein übergreifendes internationales System, um Finanzkrisen kontrollieren zu können. Gemeinsame Standards bezüglich der Finanztransaktionen sind nötig. Zudem muss die Vergütung der Finanzmanager harmonisiert werden.“
Wagenknecht (Linke): „Das Finanzsystem muss grundlegend reformiert werden: Die Rekapitalisierung von Banken durch den Staat muss über den Erwerb von Aktien mit vollem Stimmrecht erfolgen und auf die langfristige Vergesellschaftung aller Banken und Versicherungen abzielen. Die staatliche Rentenversicherung muss wieder gestärkt werden, Steuerparadiese geschlossen werden. Zudem gehören Hedge Funds und gefährliche Finanzinnovationen verboten.“
Van den Burg (SPE): „Wir brauchen eine multilaterale Zusammenarbeit, die über die G20 hinausgeht: Es bedarf eines wirklich demokratischen, rechenschaftspflichtigen, multilateralen Rahmens, der global ist und von den Parlamenten kontrolliert werden kann.“
Baeva (ALDE): „Die Krise ist das Resultat eines unregulierten Markts. Die Regierungen sollten die speziellen Umstände der einzelnen Länder nun sehr genau bewerten und die Finanzmärkte transparent machen, um ihren Bürgern Sicherheit zu geben.“
Rühle (Grüne): „Wir müssen dafür sorgen, dass die Überwachung der Finanzmärkte mit der weiteren Marktverflechtung Schritt hält. Das heißt, dass sowohl die europäischen wie auch die internationalen Kontroll-Instanzen deutlich gestärkt werden müssen.“